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Sonntag, 1. November 2015
MARK TURNER QUARTET: "LATHE OF HEAVEN"
Zart und feingliedrig beginnt er seine Soli, steigert sich langsam, verlässt fast nie das Terrain der Melodiösität. Die allerdings erlebt so manche ungeahnte und wohl auch bislang ungespielte Wendung. Turner verfügt über eine fast grenzenlose Lufthoheit in den obersten Lagen seines Horns. Die Altissimo-Register, die beim Tenorsaxophon zum großen Teil durch Überblas-Flageolettos erzeugt werden, sind bei Turner abrufbar ohne jene sonst dabei übliche schrille Eindringlichkeit. Der Mann ist ein Lyriker durch und durch. Seine magische Intensität erreicht er mit Verhaltenheit und schwebender Leichtigkeit. Er lässt Pausen, seine Musik hat Space: Raum fürs Geheimnisvolle.

Mark Turner ist anders als die meisten seiner Instrumentalkollegen. Er ist zwar auf vielen Alben als Sideman vertreten, aber seit 2002 hatte er keine eigene Band mehr, bis sich im letzten Jahr mit "Lathe Of Heaven" das Mark Turner Quartet präsentierte. Der Titel bezieht sich auf einen Science-Fiction-Roman aus den 70ern. Wie Wayne Shorter hat Turner ein Faible für dieses Genre. Turner bezieht sich in seinem Spiel aber nicht nur auf die üblichen Altvorderen von John Coltrane bis Joe Henderson. Bei ihm gibt es deutliche Bezüge auf Warne Marsh, einen weniger bekannten weißen Tenoristen aus dem Umfeld des Cool-Jazz-Gurus Lennie Tristano. Turners Band spielt ohne ein Harmonie-Instrument, das fördere die Spannung, Leerstellen gehören für ihn wesentlich zur Dramaturgie. Das alles zusammen hat dazu geführt, dass sich einige Medienvertreter bei Turner schon mit Superlativen gegenseitig zu übertreffen versuchten. Sein Spiel scheint die Gravitation auf den Kopf zu stellen. Mit wenig erreicht er sehr viel Gewicht.

Zur Verstärkung der ätherischen Eleganz seiner Musik hat sich Turner den Trompeter Avishai Cohen in die Band geholt. Die beiden haben eine ähnliche Spannweite, mit der sie durch den Raum schweben. Manchmal erinnern sie in ihrem intuitiven Formationsflug in Quart- und Quint-Abständen ein wenig an Miles und Wayne. Oft ist es gar nicht so leicht, die komponierten von den gemeinsam improvisierten Parts zu unterscheiden, so gut sind sie zusammen. Mehr als nur das Fahrgestell sind in dieser Versuchsanordnung der Bassist Joe Martin und der Schlagzeuger Obed Calvaire. Mit beiden hat Turner bereits in anderen Bands zusammengespielt. Menschliche Vertrautheit, gegenseitige Verlässlichkeit sind beim Familien-Menschen Turner – der sich in den letzten Jahren eine lange Auszeit genommen hat, um mit seinen Kindern zusammen sein zu können – Kategorien, die ihm auch wesentlich sind fürs Erreichen von nahezu transzendentaler Tonzauberei.
MARK TURNER QUARTET: "LATHE OF HEAVEN" In Flac

Mark Turner | ts
Avishai Cohen | tp
Joe Martin | b
Obed Calvaire | dr