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Dienstag, 14. April 2015
"Milch" Lebenselixier zwischen Kultobjekt und Preisverfall
Von Ulrich Land
Regie: Uta Reitz
Produktion: DLF 2015

Ganze Galerien sakraler Gemälde zeigen das Jesuskind an Mariens milchverströmendem Busen, Marilyn Monroe ließ sich mit ihrem Glas Morgenmilch fotografieren und in altindischen Sagen buttern Dämonen ein riesiges Milchmeer unter. Auch unzählige abendländische Verse, Fabeln und Geschichten besingen die Magie der Milch und bis heute pflegen mongolische Nomaden ihren jahrtausendealten Milchkult. Hierzulande aber droht jener jungfräulichweiße Saft - einst das Lebenselixier auf dem Weg vom Urmenschen zum Kulturmenschen - im Meer der Belanglosigkeit unterzugehen. Den modernen Schnäppchenjägern und -sammlern soll die Milch gefälligst nicht mehr kosten als Mineralwasser. Und angesichts der aktuellen Agrarpolitik verkommt das einstige Kult- und Kulturgut endgültig zum agro-industriellen Massenprodukt und Spekulationsobjekt im Preisdumpingzirkus.
Milch

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"Welten und Gegenwelten" Eine Lange Nacht über Blickwechsel in der Kunst
Von Berit Hempel
Regie: Burkhard Reinartz

Ihre Biografien sind wenig bekannt und trotzdem haben sie ihren festen Platz in der Kunst. Sie stehen für unterschiedliche Epochen, für den unterschiedlichen Umgang mit der Kunst und für das unterschiedliche Leben mit ihr: Angelika Kauffmann lebte als äußerst erfolgreiche Künstlerin im 18. Jahrhundert, schuf beeindruckende Porträts und Allegorien. Ihre Motive waren stilprägend, wurden in England auf Tassen, Tapeten und Kissenbezüge kopiert. "The whole world is angelica-mad" war damals ein geflügeltes Wort. Gabriele Münter war eine selbstständige junge Frau, als sie auf Wassily Kandinsky traf. 1909 kaufte sie ein Haus in Murnau bei München, in dem sie zusammen mit Kandinsky lebte, und das sich zu einem Künstlertreff entwickelte: Alexej von Jawlensky, Franz Marc, August Macke und Marianne von Werefkin gingen ein und aus. In den bäuerlichen Räumen am Staffelsee entstand der Almanach für den Blauen Reiter, malte Münter ihre bedeutendsten Bilder, unternahm mit ihren Freunden Bootsausflüge und Radtouren. Die Goldschmiedin Sonja Mataré hütet das Atelier ihres 1965 verstorbenen Vaters, des bekannten Bildhauers Ewald Mataré. Zwischen Kuhskulpturen, Mosaikentwürfen und benutzten Pfeifen erzählt sie von ihrem Leben zwischen eigenem künstlerischem Engagement und dem Bewahren von Vergangenem. Die 'Lange Nacht' wirft einen Blick auf drei eindrucksvolle Persönlichkeiten abseits des Rampenlichts, erzählt vom alltäglichen Leben mit der Kunst, von den hohen Idealen, von erfolgreicher Vermarktung bis zu tiefen seelischen Verletzungen.
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Welten und Gegenwelten

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"The Art Of Bass" Der dänische Bassist Niels-Henning Ørsted Pedersen
Kaum ein Jazzmusiker ist im Laufe seines Lebens an so vielen Schallplatten beteiligt gewesen wie der dänische Kontrabassist Niels-Henning Ørsted Pedersen.
Mehr als vierhundert Alben sollen es sein. Unter diesen vielen Aufnahmen sind immer wieder intime Duos und Trios mit ganz unterschiedlichen Musikern: Oscar Peterson, Paul Bley, Archie Shepp, Kenny Drew oder Tete Montoliu. Ein Blick auf NHØP in der kleinstmöglichen Besetzung zum 10. Todestag am 19. April 2015.
Niels-Henning Ørsted Pedersen

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"Psychedelia" Perlen einer vergangenen Ära
Mit Jay Rutledge

In den 60er Jahren entstand in der Hippie Kultur der Bay Area ein neuer bewusstseinserweiternder Sound: Psychedelic Rock. Weniger bekannt ist, das diese von dort einen Siegeszug um die Welt antrat. Gerade in den letzten Jahren hat die Welt die Spuren der Musik dieser irren Zeit lieben gelernt. Auf Compilations erschienen Sammlungen mit Titeln wie psychedelic Salsa, Bollywood oder Africa. Und selbst in Pakistan finden Vinyljunkies Musik aus dieser Ära wie sie damals Bands wie The Panthers spielten. Und auch in San Francisco der Heimat des Psychedelic Rock gibt es wieder Bands wie z.B. Chicano Batman oder Brownout die sich auf diese Ära berufen. Jay Rutledge trägt in der Nachtsession einige Perlen dieser Zeit zusammen.
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Psychedelia

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"Quer durch alle Strömungen"
Die neue Multistilistik des Pianisten und Keyboarders Florian Ross
Von Jana Heinlein

Die Fusion Music der 80er-Jahre mit ihren typischen Synthesizer-Sounds und schnellen, rockigen Gitarrenläufen prägten seine musikalische Frühsozialisation. Mit seiner neuen CD ‚Lines & Crosscurrents‘ verbindet Florian Ross nun die Klänge seiner Jugend mit den Erfahrungen, die er seitdem machen konnte - und die ihn zu einem der interessantesten und vielseitigsten Jazzmusiker avancieren ließen. Dass der in Köln lebende Pianist sich nicht nur als begnadeter Virtuose auf Konzertflügel und elektronischen Keyboards profiliert hat, sondern auch als kreativer Schöpfer intelligenter wie emotional eindringlicher Improvisationsmusik, belegt sein gutes Dutzend CD-Produktionen. Ob mit Orgeltrio oder Big Band, in Combo-Besetzung oder Solo, ob akustisch oder elektrisch - Florian Ross begegnet der Musik stets mit Feinsinn, Akribie und poetischer Ausdruckskraft. Mit ‚Lines & Crosscurrents‘ lässt er nun Klavier, Klarinette, Bass und Schlagzeug auf (analoge!) Synthesizer und gar eine Pedal Steel Gitarre treffen. Das Ergebnis ist eine neue Klangsprache, in der sich europäische Kammerjazz-Ästhetik ebenso wiederfindet wie erdiger Rock-Jazz und wunderbar fließende Soundscapes.
Quer durch alle Strömungen

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"Sounds of Sadness" Musik von Nick Drake bis Waxahatchee
Mit Michael Bartlewski

Die Pop-Welt mag immer digitaler, hyperaktiver und lauter werden. Aber eine Grundformel gerät nie aus der Mode: Traurige Songs voller Verzweiflung. In der Nachtsession sind wir auf der Spur der Sounds of Sadness. Zu hören gibt es Musiker, bei denen die "Sadness" eine explizite Rolle spielt. Der viel zu früh verstorbene Jason Molina, der große Nick Drake und Songwriterinnen wie Angel Olsen oder Waxahatchee. The Magnetic Fields singen von der "sadest story ever told", die Briten von "Happyness" sind alles andere als happy und der notorisch verzweifelte Casiotone for the Painfully Alone weiß auch keinen Ausweg. Ein bisschen Hoffnung kommt mit einer Reihe junger Elektronik-Produzenten, die ihre Zerrissenheit ganz bewusst nach Außen stellen.
Playlist
Sounds of Sadness

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Montag, 13. April 2015
"Interspace" Von Michal Rataj
Orgelspiel und Gesang dominieren unsere akustischen Assoziationen zu Kirchenräumen. Aber da ist noch mehr. Der Prager Komponist Michal Rataj sammelt auf seinen Reisen Klänge aus Sakralbauten.
Fast ein Jahrzehnt lang hat Rataj Kirchenräume in Tschechien, Österreich, Rumänien, Polen, USA, Deutschland und Portugal akustisch dokumentiert. Beim Auswerten des Materials merkte er, dass ihn vor allem eine spezifische Geräuschgruppe fasziniert. Und zwar nicht die vordergründigen Sounds der Rituale, sondern all das, was parallel oder außerhalb der zentralen kultischen Handlungen hörbar wird: Quietschende Türen, Weihwassertropfen, Glocken, Gebetsmurmeln, das Knarren alter hölzerner Sitzbänke, oder der Klang von Münzen, die in die Spendendosen geworfen werden.
Michal Rataj: "Mir wurde klar, dass diese Klänge mich mehr ansprechen und wichtiger für den spirituellen Kontext scheinen als die "eigentlichen" Klänge der Rituale. Mit einer Ausnahme: den Predigten. Die Aufnahmen der geistlichen Ansprachen in verschiedenen Sprachen schaffen eine wunderbare Polyphonie der kulturellen, emotionalen und religiösen Haltungen."

Michal Rataj, geboren 1975 in Písek, CZ, Komponist, Radioproduzent und Musikwissenschaftler. Studierte Komposition und Musik in Prag, London und Berlin. 2004 Artist in Residence im MuseumsQuartier in Wien. 2007-2008 als Fulbright-Stipendiat an der University of California, Berkeley. Musik für Film, Bühne und Radiostücke. Assistenzprofessor für elektroakustische Musik an der Akademie der darstellenden Künste und der New York University in Prag. Redakteur beim Tschechischen Rundfunk in Prag und Herausgeber der CD-Edition "rAdioCUSTICA".
Interspace
Realisation: der Autor
Produktion: WDR 2015

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"Andreas Schaerer" Vokalvirtuose aus der Schweiz
Die Erweiterung der Spieltechniken im Jazz hat das älteste aller Instrumente erfasst: nach Posaune und Trompete erklingt jetzt auch der Gesang mehrstimmig.
Damit ist nicht die Hilfe durch digitale Klangbearbeitung gemeint (wie sie Andreas Schaerer im Duo mit Lucas Niggli praktiziert). Beim Schaffhauser Jazzfestival 2014 verblüffte er durch Erweiterung des Human Beat Boxing mit einer neuen, zweistimmigen Technik: Schnalzlaute mit dem Mund und Melodien durch die Nase, gleichzeitig.
Das kann man jetzt auf einer neuen CD nachhören: "Perpetual Delirium", Andreas Schaerer mit dem Arte (Saxophon) Quartett und dem Bassisten Wolfgang Zwiauer.
Schaerer, geboren 1976 im Wallis, ist der neue Vokalgipfel aus der Schweiz. Er kann alles: Falsett, Standards, Scat, das Schnattern der Avantgarde und jetzt auch noch Zweistimmigkeit.
Und er kann komponieren. Er schreibt nicht nur anspruchsvolle Programme wie das obige, sondern auch für das populärste seiner Ensembles, Hildegard Lernt Fliegen. Davon erscheint dieser Tage eine neue DVD, "Live in Göttingen".
Andreas Schaerer

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"Soft Songs" Musik von Father John Misty bis Alex Chilton
Mit Thomas Meinecke

Die Sendung besteht aus einem Bündel softer Songs aus zumindest stilistisch überwiegend südlichen Gefilden Nordamerikas, von untergründig queer wie Dan Bodan, Slim Twig und Scott Matthew, bis kokett konservativ wie Matthew E. White oder Natalie Prass und Father John Misty. Dazu ein paar Klassiker von Alex Chilton und Big Star, Little Feat, historisch, und Lucinda Williams, erst neulich.
Playlist
Soft Songs

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"Hiob Gesicht Gottes" Von Michael Farin nach einem Text von Thomas Harlan (!!!)
Mit: Blixa Bargeld
Komposition: zeitblom
Regie: Michael Farin
Produktion: HR/DKultur 2015 (Ursendung)
Der Bibeltext in einer poetischen Übersetzung des 2010 verstorbenen Filmemachers Thomas Harlan.
Sowohl Juden als auch Christen und Muslime kennen die Geschichte von Hiob, in der Gott und der Teufel eine Wette eingehen: Ist Hiob ein gottesfürchtiger Mensch, einzig weil es ihm gut geht und er nichts zu klagen hat? Gott stellt seinen Diener auf die Probe: Er duldet, dass Hiob unermessliches Leid widerfährt. Hiob ist der Spiegel Gottes, aber der Spiegel ist blind. In ihm lässt sich sehen, wie das Leid in die Welt kommt, jedoch nicht warum.
Das Hörstück von Michael Farin basiert auf Thomas Harlans poetischer Neuübersetzung. Es gibt dem sinnentleerten Leid eine Sprache: "schreie ich nach dir antwortest du nicht/vor dir stehe ich und du würdigst mich keines blickes/wie grausam bist du zu mir/in der wucht seiner faust/spüre ich haß".
Hiob Gesicht Gottes
Michael Farin wurde 1953 in Niedersachsen geboren. Er ist Regisseur, Autor und Inhaber des Belleville Verlags. Zahlreiche Hörbücher und Features.

Thomas Harlan, geboren 1929 in Berlin, gestorben 2010, war Autor und Filmemacher.

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